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Der Morgen danach: Was die Causa Wulff uns lehrt

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9.3.2012 – Nach fast drei Monaten erlebte die Causa Wulff gestern Abend mit einem Zapfenstreich vor dem Schloss Bellevue ihren vorläufigen Abschluss. Seit die BILD-Zeitung im Dezember letzten Jahres darüber berichtete, dass der Bundespräsident während seiner Amtszeit als niedersächsischer Ministerpräsident von vermögenden Freunden einen Privatkredit angenommen hatte, verging kein Tag, an dem nicht neue Details über Wulffs Lebenswandel ans Licht kamen.

In der Öffentlichkeit wird die Affäre um den Bundespräsidenten als unrühmliche Ausnahme im politischen Betrieb dargestellt. Doch ist es tatsächlich so ungewöhnlich, dass Politiker nach innen ganz anders agieren, als sie es nach außen darstellen?

Wulff und die Medien

Im Zusammenhang mit der Affäre Wulff ist immer wieder von einer Medien-Kampagne die Rede. Die schreibende Zunft und die Rundfunk- und Fernsehanstalten hätten sich gegen den Präsidenten verbündet, ihn über Wochen gezielt vor sich hergetrieben und dabei gemeinsam von Anfang an das Ziel verfolgt, Wulff aus dem Amt zu drängen.

Während man sich gut vorstellen kann, dass es dem Springer-Verlag und verschiedenen anderen Medienvertretern tatsächlich auch darum ging, Christian Wulff loszuwerden oder doch zumindest einmal warnend unter Beweis zu stellen, zu welchen Formen konkreter politischer Einflussnahme die Medien in der Lage sind, wenn sie denn nur wollen, verstellt die Kampagnen-Theorie den Blick auf die mediale Wirklichkeit.

Wir haben es in Deutschland mit Medien zu tun, die von verkauften Auflagen, Einschaltquoten und Einnahmen abhängig sind. Vor diesem Hintergrund liegt es in der Natur der Sache, dass sich Zeitungen, Zeitschriften, TV- und Radio-Redaktionen immer dort tummeln, wo man mit einem starken Publikumsinteresse rechnen kann.

Christian Wulff hat sich von Beginn der Affäre an ungeschickt verhalten. Sein anfängliches Schweigen, seine vereinzelten Äußerungen und seine fortgesetzte Weigerung zurückzutreten, hielten das Interesse von Öffentlichkeit und Medien über Wochen auf einem hohen Niveau. So lud er Journalisten und Redakteure geradezu dazu ein, sich im Aufspüren weiterer Details und Enthüllungen gegenseitig mit neuen Schlagzeilen zu überbieten.

Den verschiedenen Talk-Formaten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen half und hilft die Affäre Wulff zudem über die mauen Wintermonate. Von Maischberger und Will, über Illner, Beckmann und Lanz bis hin zu Plasberg und Jauch: Es verging seit Dezember keine Woche, in der nicht alle üblichen (S)talker, viele von ihnen gleich mehrfach, ihren oft unerheblichen Senf dazu beitrugen, die Causa Wulff am Leben zu erhalten.

Wenngleich es vielen Politikern Angst machen muss, zu erleben, wie einer von ihnen anhand von Verfehlungen, die den wenigsten ihrer Kaste fremd sein dürften, demontiert wurde, so kam der Politik die Affäre doch gelegen. In ihrem Schatten ließen sich tagespolitische Entwicklungen und Ereignisse, von „Euro-Rettung“, über „Griechenland-Hilfe“ bis hin zu NSU-Pannen, Pharma-Datenskandalen oder Linken-Beobachtung durch den Geheimdienst, gut verstecken.

Pest und Cholera

Nach dem unerwarteten Rücktritt von Horst Köhler im Mai 2010 hatten die Mitglieder der Bundesversammlung mit Christian Wulff und Joachim Gauck die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wulff als stromlinienförmiger Parteisoldat von Merkels Gnaden und Gauck als parteistrategische Provokation von SPD und Grünen gegenüber der Regierungskoalition entsprachen und entsprechen beide kaum der Idealvorstellung von einem politisch neutralen, ausgleichenden, klugen und in sich ruhenden Repräsentanten des Landes.

Nach dem dritten Wahlgang fiel die Entscheidung schließlich zu Gunsten des amtierenden niedersächsischen Ministerpräsidenten aus. Christian Wulff wechselte von einem Tag zum nächsten vom macht- und parteipolitisch geprägten Tagesgeschäft eines erfolgsorientierten Landesfürsten ins Schloss Bellevue und stand dort von Beginn seiner Amtszeit an unter strenger Beobachtung.

Angela Merkel hatte ihren Wunschkandidaten nicht zuletzt deshalb durchgesetzt, weil sie für Verhältnisse sorgen wollte, in der das Staatsoberhaupt ihr nicht in den alternativlosen Regierungsstil hineinpfuscht. Dieser Erwartung wurde Christian Wulff vollumfänglich gerecht, auch wenn seine verbliebenen Anhänger in diesem Zusammenhang gerne auf seine Äußerungen in Sachen Integration oder Euro-Krise aufmerksam machen oder ihn dafür loben, dass er die Angehörigen der NSU-Opfer im Schloss Bellevue empfing.

Betrachtet man sein diesbezügliches Engagement jedoch im Detail, dann stellt man fest, dass es sich hierbei um nicht mehr als um Selbstverständlichkeiten handelte und dass er sich damit nie in tatsächlichen Widerspruch zur Position der Bundeskanzlerin stellte.

Am 3. Oktober 2010 sagte Christian Wulff in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, dass der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehöre. Angesichts von rund vier Millionen Muslimen, die in Deutschland leben, ist jede andere Auffassung absurd. Ihn bis heute für dieses selbstverständliche Statement zu loben, sagt mehr über die Dürftigkeit seiner übrigen Auftritte und Aktivitäten aus als über die Äußerung selber. Konkrete Taten, Aktionen oder Initiativen von Christian Wulff in Sachen Integration blieben in der Folge ebenso aus, wie eine Reaktion auf Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, der am 3. März 2011 betonte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.

In Bezug auf die Euro-Krise kritisierte Christian Wulff vor allem die Europäische Zentralbank für den massiven Ankauf von Anleihen einzelner Staaten und verwies darauf, dass ein solches Vorgehen die Lasten zur jungen Generation verschieben würde. Er äußerte sich weder zu den drastischen Sozialeinschnitten in den verschuldeten Staaten, noch dazu, dass Italien und Griechenland mittlerweile von nicht demokratisch legitimierten Technokraten regiert werden. Auch über die internationale und die deutsche Occupy Bewegung verlor der Bundespräsident kein öffentliches Wort. Auch hier ist kein Widerspruch zur offiziellen Position der Kanzlerin zu erkennen.

Ende November letzten Jahres empfing Christian Wulff Angehörige der Opfer der NSU im Rahmen eines vertraulichen Gespräches im Schloss Bellevue. Bei dem Treffen handelte es sich allerdings um nicht mehr, als eine Geste zur Schadensbegrenzung, die gewählt wurde, weil man sich in Berlin zu diesem Zeitpunkt noch nicht darüber einig war, ob es eine offizielle Gedenk- und Trauerfeier überhaupt geben solle. Angela Merkel lobte den Empfang als „Zeichen der Zuwendung und der Verbundenheit des ganzen deutschen Volkes“, obwohl er sich jenseits der Öffentlichkeit, im Verborgenen abspielte.

Christian Wulff hat während seiner kurzen Amtszeit keine wesentlichen Spuren hinterlassen. Er äußerte sich kaum zu wichtigen und drängenden Angelegenheiten, er geriet zu keiner Zeit in Konflikt oder auch nur Diskurs mit der Regierung und er setzte keine Zeichen, die nicht ebenso auch von Angela Merkel und der Regierungskoalition hätten gegeben werden können.

Ausnahme oder Regel?

Was wirft man dem Bundespräsidenten eigentlich konkret vor und was genau hat letztlich zu seinem Rücktritt geführt? Der Nachweis darüber, dass Christian Wulff sich während seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident persönliche Vorteile verschafft hat, dass er einen wenig distanzieren Umgang mit einflussreichen Wirtschaftsvertretern pflegte, dass er den Landtag mit seinen Aussagen zu Egons Geerkens in die Irre führte und dass er es mit der Trennung von Amt und Privatleben nicht allzu genau nahm, ergibt zusammengefasst den Eindruck von einem Politiker, der nach innen anders handelt, als er es nach außen vorgibt.

Man nahm es Wulff am Ende nicht mehr ab, dass er anständig ist. Man zweifelte an seinen Worten und Versprechen und man ging davon aus, dass er von profaneren Motiven geleitet war, als er es öffentlich vorgab. Doch ist diese Einschätzung und Beurteilung eines Politikers tatsächlich die große Ausnahme, zu der seine Affäre seit Wochen stilisiert wird? Gehen wir tatsächlich davon aus, dass Politiker die Wahrheit sprechen, wenn sie sich öffentlich äußern, dass es ihnen in ihrer Arbeit darum geht, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern und sich uneigennützig für das Gemeinwohl einzusetzen?

Niemand, der sich seriös mit der politischen Wirklichkeit in Deutschland auseinandersetzt, kann zu dem Schluss kommen, dass hier überwiegend ehrbare, anständige und ehrliche Menschen am Werk sind, die ihre Zeit, ihr Engagement, ihre Arbeit und ihre Verbindungen einsetzen, um dem Land und der Bevölkerung zu dienen.

Der Fall Christian Wulff wirkt einfacher, durchschaubarer, schmutziger und dadurch vielleicht auch menschlicher, weil wir hier einen Amtsträger erleben, der seine politische Karriere für vergleichsweise kleine Vorzüge aufs Spiel gesetzt hat. Ein günstiges Darlehen hier, ein paar kostenlose Urlaubstage dort und ein paar Stunden im Dunstkreis von seidenen und halbseidenen Promis machen die Affäre anschaulich. Hier hat ein Politiker so deutlich und auf solch einfache Weise gefehlt, dass es nicht schwer ist, ein Urteil zu fällen. Wulff wirkt, gerade wegen der Albernheit der in Anspruch genommenen Vorteile, so außerordentlich beschädigt, klein und unwürdig und weckt daher bei uns allen den Reflex, ihn aus dem Haus jagen zu wollen.

Will man in Bezug auf sein Verhalten von Korruption sprechen, dann ist die Währung der Bestechung besonders anschaulich und nachvollziehbar. Doch warum reagieren wir an dieser Stelle so empört und aufgebracht, während viele von uns ehemaligen Politikern wie Roland Koch, Joschka Fischer, Wolfgang Clement oder Gerhard Schröder, um nur einige Beispiele zu nennen, beinahe schon mit Bewunderung und Respekt gegenüberstehen und ihnen mit Blick auf ihre postpolitischen Karrieren besonderes Geschick und ausgeprägte Führungseigenschaften attestieren?

Politik, Macht und Moral

Wir müssen uns in diesem Zusammenhang eines vor Augen führen: Wenn es um Entscheidungsprozesse über Geld, über Marktanteile und über wirtschaftliche oder politische Macht geht, dann wird man moralische Positionen grundsätzlich vergeblich suchen. Wer würde schon davon ausgehen, dass sich in einer Vorstandssitzung, einem politischen Gremium oder einer Konferenz von Entscheidern derjenige mit seinem Standpunkt durchsetzt, der an Anstand, Moral oder Gerechtigkeit appelliert?

Ein Mensch, der in einer Runde von Entscheidungsträgern, deren Verhalten und Standpunkte am Ende des Tages immer von eigenen Interessen geprägt sind, moralische Aspekte geltend machen will, wird es entweder nie zu einer maßgeblichen Position bringen oder spätestens dann „entsorgt“ werden, wenn er den Interessen der anderen entgegentritt.

Würde die Liste persönlicher Vorteile immer von Klinkerhäusern in Großburgwedel, von Ferientagen auf Norderney, von einem günstigen Kleid für die Gattin oder einem unverdienten Doktortitel angeführt werden, dann wäre die Aufdeckung von Korruption eine einfache Sache.

Die Eigenschaften solcher Zuwendungen erschließen sich auf den ersten Blick und lassen sich mühelos nachweisen, wenn man nur hartnäckig genug nachforscht. Wenn jedoch eine Kanzlerin ihr Handeln in den Dienst einer möglichst langen Amtszeit, ein Parteivorsitzender sein Engagement in den Dienst künftiger Regierungsoptionen oder ein Politiker seine Arbeit in den Dienst des nächsten Karrierelevels stellt und dafür die eigentlichen Aufgaben, Verpflichtungen und die Verantwortung gegenüber der Bevölkerung in den Hintergrund stellt, dann fällt der Nachweis deutlich schwerer.

Die Affäre Christian Wulff zeigt, dass wir sehr dringend eine Debatte über politische Moral in unserem Land brauchen. Dass wir uns ernsthaft fragen müssen, von welchen Motiven und Interessen unsere Volksvertreter tatsächlich geleitet sind, wenn sie uns vorgau(c)keln, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln und dass wir Mechanismen entwickeln müssen, mit denen sich politisches Handeln anhand strenger Maßstäbe und Kriterien zutreffender beurteilen lässt, als es bisher der Fall ist.

Christian Wulff ist vor allem ein Symbol für den weit fortgeschrittenen Niedergang politischer Kultur. Als Prügelknabe der politischen Klasse hat er die undankbare aber gut bezahlte Aufgabe übernommen, sich öffentlich für Vergehen hinrichten zu lassen, die im politischen Betrieb gang und gäbe sind. Viele Politiker wischen sich in diesen Tagen, mit dem guten Gefühl, selber noch einmal davongekommen zu sein, den eigenen Angstschweiß von der Stirn und blinzeln ungläubig angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet ein Bundespräsident als Bauernopfer ans Kreuz der Republik geschlagen wurde, um ihre Sünden auf sich zu nehmen.

 


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